Buchrezension: “Lebensmodelle ab 65 — Anregungen aus Gesprächen”

Hen­ning von Vier­egge  ist ein lang­jäh­ri­ger Mit­strei­ter für moderne Alters­bil­der und selbst Autor ganz aus­ge­zeich­ne­ter Bücher über die zweite Lebens­hälfte (Der Ruhe­stand kommt spä­ter, Frank­furt 2012, Halb­zeit des Lebens- was nun? Hör­buch 2015, Neu­start mit 60, Anstif­tung zum dyna­mi­schen Ruhe­stand 2016 3. Auf­lage 2018). Er lobt das fol­gende Buch

“Lebens­mo­delle ab 65 Jahren”

erschie­nen bei bellingbooks.com in der Schweiz und auch von dort zu bezie­hen. Er hat uns dazu freund­li­cher­weise — vie­len Dank! — fol­gende Rezen­sion überlassen:

“Neu­lich las ich eine Todes­an­zeige, die sinn­ge­mäß so ging: „Heute wäre die XY 100 gewor­den. Ihre Ver­wandt­schaft hat sie vor zwei Jah­ren in ein Senio­ren­heim gebracht, dort ist sie vor einem Jahr gestor­ben.“ Es war so eine ver­kappte Todes­an­zeige, in Wirk­lich­keit ein Pro­test gegen die Behand­lung einer älte­ren Dame durch ihre Ver­wandt­schaft. Der Vor­wurf: Ohne Ver­brin­gung in ein Senio­ren­heim wäre sie 100 geworden.

Auch diese etwas skur­rile Geschichte zeigt, dass wir uns daran gewöhnt haben, nicht mehr mit 65 zu ster­ben. Die Autoren Ernst Bechi­nie und Judith Bar­bara Shou­kier erin­nern in ihrem Buch daran, dass noch im Jahr 1900 die durch­schnitt­li­che Lebens­er­war­tung unter 50 Jah­ren lag. Und so war es über Jahr­hun­derte gewe­sen. Es war kei­nes­wegs respekt­los, dem Phi­lo­so­phen Imma­nuel Kant, wie es ein Gra­tu­la­ti­ons­red­ner tat, zum 50. Geburts­tag mit „ehr­wür­di­ger Greis“ zu titu­lie­ren. Die große Wende kam wesent­lich durch medi­zi­ni­schen Fort­schritt im Über­gang ins 20.Jahrhundert, die Fol­gen setz­ten nach und nach ein.

Die Alters­for­schung hat sich inzwi­schen ange­wöhnt, von einer drit­ten Lebens­phase zu spre­chen, die sich zwi­schen Berufs­tä­tig­keit und Hoch­al­te­rig­keit gescho­ben hat. Der Begriff „Ruhe­stand“ ist dem­nach in der bis­he­ri­gen Form ein Aus­lauf­mo­dell, er wan­dert ent­we­der im Leben an den Rand oder ver­schwin­det ganz.

Aber was soll an die Stelle tre­ten? Das tra­di­tio­nelle Alters­bild ist wesent­lich ver­lust­ge­prägt und trifft die Wirk­lich­keit somit nur noch begrenzt. Im Über­schwang wer­den Mun­ter­ma­cher als Bücher, Tas­sen und T‑Shirts gebo­ten, in denen das eigent­li­che Lebens­glück den­je­ni­gen, die in diese Phase ein­tre­ten, quasi auto­ma­tisch bevor­steht. Die Wer­bung zeigt hei­tere, aktive jung-ältere Paare, die sich mit voll­stän­di­gen Zahn­rei­hen schein­bar ewig anlä­cheln: die neuen Kreuz­fah­rer sind da. Nicht nur in Pan­de­mie­zei­ten gru­selt einen vor so viel Oberfläche.

Was für eine Freude, in einer sol­chen Situa­tion ein wirk­lich schön gemach­tes Buch mit Geschich­ten von Men­schen über 65 lesen zu kön­nen. Pas­qu­alina Per­rig-Ciello, schwei­ze­ri­sche Alters­for­sche­rin, schreibt in ihrem Vor­wort zur Ziel­gruppe: „Diese zum Ruhe­stand Bestimm­ten gehö­ren einer Gene­ra­tion an, die immer weni­ger ‚ruhig gestellt‘ wer­den will und lineare Lebens – und Berufs­ver­laufs­vor­stel­lun­gen sowie starre sozi­al­po­li­ti­sche Rege­lun­gen zuneh­mend infrage stellt. Ange­sichts der poten­ti­el­len Länge des Ruhe­stan­des ist diese Neu­de­fi­ni­tion heute not­wen­di­ger denn je.“

Die Autoren haben Gesprä­che geführt. Ernst Bechi­nie, sel­ber einer jener gera­dezu exem­pla­ri­schen „neuen Alten“ und seine um eine Gene­ra­tion jün­ge­rer Mit­au­torin Judith Bar­bara Shou­kier, haben 23 Per­so­nen befragt, dabei einige Leit­fra­gen ver­wen­dend und in klu­ger­weise kom­pri­mie­rend. (Der Autor die­ser Zei­len kann das bestä­ti­gen, weil er zu einem der Befrag­ten gehörte.) Bei rund 300 Sei­ten Text bil­den etwa 40 Sei­ten eine Fak­ten trans­por­tie­rende, im Übri­gen behut­sam reflek­tie­rende Ein­lei­tung. Das Schluss­ka­pi­tel hat den glei­chen Umfang.

Nimmt man alles zusam­men, ist das Ergeb­nis so wenig über­ra­schend wie die aus­ge­brei­te­ten Lebens­ver­läufe. Aber man kann die­ses Ergeb­nis gar nicht genug ver­brei­ten: Es gibt kei­nen Para­de­weg in die dritte Lebens­phase und auch die­je­ni­gen, die hin­ein gestol­pert sind, haben sich nach einer Ori­en­tie­rungs­zeit berap­pelt und sind erfolg­reich bemüht, die gewon­nene Lebens­zeit nicht sinn­los ver­strei­chen zu lassen.

Unter dem Strich ent­steht so erheb­lich Nütz­li­ches für Neh­mer und Geber; Eigen- Fami­lien- und Gemein­wohl las­sen sich gut ver­bin­den. Was die Gene­rali Alters­stu­die 2013 empi­risch belegte und ein Kom­men­ta­tor( Ger­hard Nae­gele) damals als „klei­nen Gene­ra­tio­nen­ver­trag“ bezeich­nete, fin­det sich hier in den Lebens­läu­fen. Die Gene­ra­tion emp­fängt (zum Bei­spiel die Alters­ver­sor­gung) und gibt auf viel­fa­che Weise. Es ist ein Aus­tausch in beide Richtungen.

Häu­fig ist das Geben stär­ker als das Neh­men. Damit trägt diese Gene­ra­tion zum Zusam­men­halt und zur Sta­bi­li­tät der Gesell­schaft nicht uner­heb­lich bei. Es ist gerade die Frei­heit des Indi­vi­du­ums, zu ent­schei­den an wel­cher Stelle es sich ein­bringt, das dazu füh­ren kann, dass Lücken und Brü­che im gesell­schaft­li­chen Sys­tem wenn auch nicht geheilt, so doch über­brückt wer­den. Anstren­gungs­frei ist dies aber nicht, vor dem Gip­fel liegt der Aufstieg.

Eine ursprüng­li­che Füh­rungs­kraft im Tou­ris­mus, Domi­ni­que Faesch, bringt die­sen Gedan­ken auf den Satz: „Erfolg kommt für mich ganz stark von Aus­dauer und Geduld“. Auch Vor­wort-Autorin Pas­ca­lina Per­rig-Chiello, inzwi­schen Prä­si­den­tin der Senio­ren Uni­ver­si­tät Bern, stellte sich der Befra­gung. Ihre Meta­pher „Der Herr­gott schickt Wind und Wet­ter. Rudern muss ich sel­ber“ fin­det sich in ähn­li­cher Form auch bei ande­ren, so bei einem Unter­neh­mer, Roland Sau­ter: „Stürme kom­men und gehen. Den Kurs müs­sen wir sel­ber halten.“

Die Autoren haben den Lebens­ge­schich­ten zwölf Impulse für den All­tag ange­fügt, Weg­be­glei­ter genannt. Das, was dort zu lesen ist, ist mehr als auf lang­wei­lige Weise rich­tig. Ent­schei­dend sind der argu­men­ta­tive Bogen, eine ein­fühl­same Spra­che, anre­gende Fra­gen an die Leser, die Lese­rin am Ende der jewei­li­gen Abschnitte. Und genau dies ist den Autoren in groß­ar­ti­ger Weise gelun­gen. Ein rundum emp­feh­lens­wer­tes Buch.

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