Wir werden täglich mit den neuesten Pandemiezahlen konfrontiert. Leichte Ermüdung ist verständlich. Aber es lohnt sich, diese Statistiken zu hinterfragen, denn Bewertungen, Warnungen oder gar Diskriminierungen hängen eng damit zusammen. So etwa die Frage: wer ist die „Risikogruppe“?
Mehrere Medien, so die FAZ online und der „Tagesspiegel“ berichten am 4. Mai 2020 über die Schauspielerin Renan Demirkan, die in einem offenen Brief an den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet geschrieben hat, dass ältere Schauspieler und Künstlerinnen Absagen erhalten und aus Drehbüchern von Film- und Fernsehproduktionen herausgeschrieben werden, weil sie zur „Risikogruppe“ gehören.
Risikogruppe wird in der Schweiz vom Bundesamt für Gesundheit definiert als Personen ab 65 oder mit bestehenden Vorerkrankungen. Das Robert-Koch-Institut in Deutschland legt sich fest, dass das Risiko einer schweren Erkrankung bereits ab 50–60 Jahren steigt.
Um die Diskussion über die „Älteren“, die in der öffentlichen Debatte zu Corona schnell mit dem Begriff „Risikogruppe“ belegt werden, zu entschlüsseln und zu versachlichen, haben wir uns die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu den Infizierten und den Todesfällen nach Altersgruppen in Deutschland genauer angeschaut: Eine Momentaufnahme – Grundlage sind die Zahlen eines Tages, des 30. April 2020.
An diesem Tag gab es insgesamt 159 119 gemeldete Infektionsfälle.
Wir haben zunächst die Verteilung der Corona-Infektionen nach den RKI-Altersgruppen betrachtet. Darunter, in blau, ist die prozentuale Verteilung der Infektionen je nach Altersgruppen zu lesen.
In der folgenden Zeile, in rot, haben wir die Zahlen der Todesfälle zusammengetragen, aufgeteilt wieder nach den RKI-Altersgruppen, die in diesem Fall aber differenzierter sind. Dies waren laut RKI an diesem Tag 6 283 Todesfälle. (Schwankungen von +- 10, die auf der website zu finden sind, können vernachlässigt werden.) Insgesamt waren an diesem Tag ca. 3,95 % der Infizierten in Deutschland gestorben.

Nun ging es darum, nach den Alterskohorten die prozentuale Anzahl der Verstorbenen zu ermitteln. Das war nicht einfach, da wie erwähnt die Todesfallstatistik immer in 10-Jahres-Altersschritten geführt wird, nicht so leider die Infizierten-Statistik. Hier ist die Altersunterteilung deutlich grober.
Wir haben uns dann bemüht, die exakten Infektionszahlen, ebenfalls nach dieser differenzierten Altersunterteilung zu erhalten. Das RKI hat uns per mail mitgeteilt, dass man uns „aus Kapazitätsgründen nicht weiterhelfen kann“.
So haben wir eine Bildtafel in Form eines Säulendiagramms genutzt, die ebenfalls in der RKI-Veröffentlichung COVID-19-Lagebericht vom 30.4.2020 zu sehen ist und an Hand derer man in etwa schätzen kann, wie die Infektionsverteilung in den uns interessierenden Altersgruppen 50–59/60–69 sowie 70–79/ 80–89 ist.
Die Säulen zeigen, dass von 51 209 Infizierten in der Altersgruppe zwischen 50 und 69 etwas mehr als die Hälfte zwischen 50 und 59 Jahre alt sind und etwas weniger als die Hälfte zwischen 60 und 69 Jahre alt sind. In der nächsten Alterskohorte sind von den 25 691 Infizierten weniger als die Hälfte der Infizierten im Alter von 70–79, mehr als die Hälfte im Alter von 80–89.
Daraus haben wir geschätzte Zahlenannahmen gemacht, in braun. Die folgende Statistik beleuchtet nun ausschließlich die Fälle ab 50 Jahre und älter. Mit den geschätzten Daten wurde nun errechnet, wieviel Prozent pro Altersgruppe der Infizierten verstorben ist.

Das Überraschende ist, dass die Sterblichkeit im Alter von 50–59 unter 1 % liegt, im Alter von 60–69 etwas über 2 %. Beide Werte weit unter dem Gesamtdurchschnitt von 3,95%. Das zeigt, dass diese Zahlen nicht beweisen, dass Menschen bis 69 Jahren per se zur Risikogruppe gehören.
In der Altersgruppe ab 70 – 79 wächst sie auf 13 % und ab 80 Jahren geht es fast an 20 % bzw. bei den über 90-Jährigen auf 25%.
Würde eine Statistik nun noch zeigen, wie viele der verstorbenen Menschen in den höheren Altersgruppen Vorerkrankungen hatten und/oder BewohnerInnen einer Pflegeeinrichtung waren, wo es tragischerweise zu einer großen Zahl von Todesfällen kam, könnte sich die Bewertung noch weiter verändern.
Sprechen wir von den „Älteren“, sind die Menschen ab 60 Jahren gemeint. Auch in der Fachliteratur ist diese Definition der Älteren ab 60 Jahren zu finden.
Dass alle Menschen ab 60 per se aber wegen ihres Alters eine „Risikogruppe“ sind, lässt sich zumindest aus diesen Zahlen nicht ablesen. Dass Menschen ab 60 bis 90 in ihrer Verfassung nicht homogen, sondern extrem unterschiedlich sind, ist u.a. eine der wesentlichen Erkenntnisse der gerontologischen Wissenschaft. Es ist sehr gut, dass sich in dieser aufregenden Zeit die politischen Überlegungen und Regelsetzungen immer wieder mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und Rat rückkoppeln, reiben oder begründen. Aber um so mehr sollten die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Befindlichkeit und Verfasstheit älterer Menschen nicht außer Acht gelassen werden.
Solche Definitionen machen nicht nur persönlich Angst, sondern stabilisieren auch Altersbilder, die undifferenziert und möglicherweise falsch sind. Und sie führen zu merkwürdigen Ausgrenzungen, wie zu Beginn in der Filmwirtschaft erwähnt.
Warum in den altersbezogenen Infektionsstatistiken des RKI die Differenzierung in den höchst heterogenen Alterskohorten ab dem Alter von 50 nicht in dieser Ausdifferenzierung zusammengestellt werden, erscheint uns nicht plausibel und schürt eine pauschale Angst der Älteren ab 60, aber auch möglicherweise deren Ausgrenzung. Wenn schon derzeit Kategorien nicht zu vermeiden sind, dann sollten doch sog. Ältere und Hochaltrige differenziert betrachtet werden.
In welcher Form sich diese Menschen, zumal wenn sie Vorerkrankungen haben, schützen möchten oder sollten, sollte ein Dialog mit ihrem Arzt herausfinden. Aufklärung und Versachlichung sollte für alle oberste Maxime in der Krisenkommunikation rund um Corona sein.
Barbara Wackernagel-Jacobs, 05. Mai 2020