sondern nur Altersdiskriminierung
Eine Antwort auf DIE ZEIT am 16. April 2020 auf Seite 4, Politik:
„In der Altersfalle. Für gefährdete Bevölkerungsgruppen könnte es noch lange Einschränkungen geben – das wird für Streit sorgen“ von Heinrich Wefing
Hier lesen Sie unsere Antwort als Appell zur Diskussion:
“Kurz nach Beginn der Corona-Krise veröffentlicht die Blutspende-Zentrale im Saarland einen Aufruf, dringend Blut zu spenden. Ich will einen Termin machen und weise darauf hin, dass ich 69 bin. Das Erschrecken am anderen Ende der Leitung ist fast hörbar: ‘Oh, in diesem Alter wollen wir Ihnen eine Blutspende aber nicht mehr zumuten.’ Zumuten? Ich bin gesund, fit, habe die begehrte Blutgruppe 0 und keinerlei Vorerkrankungen. Also bestehe ich auf einem Termin, fange fast einen Streit am Telefon an. Vergebens. ‘Wir haben unsere Vorschriften’, wird mir beschieden.”
Was eine von uns, Barbara Wackernagel-Jacobs, Filmproduzentin und frühere Gesundheitsministerin des Saarlandes, am Telefon erlebt hat, lässt sich nur mit einem Begriff beschreiben: Altersdiskriminierung. Sie entspringt im wahrsten Sinne des Wortes völlig veralteten Altersbildern, die leider jetzt in der Corona-Krise wieder schrecklichen Auftrieb bekommen.
Dem müssen wir entschieden entgegentreten. Das Bild der schutzbedürftigen Älteren, denen ab einem willkürlich bestimmten kalendarischen Alter nicht oder nur wenig mehr zugemutet werden kann, war schon lange grundfalsch. Nun, wo 17 Millionen Menschen und damit jeder und jede Fünfte in diesem Land über 65 Jahre alt sind, ist es geradezu grotesk und extrem schädlich für unser Zusammenleben in dieser Gesellschaft.
Es ist unbestritten, dass die bisherigen Corona-Maßnahmen notwendig waren. Aber sie sind kein Generationengeschenk. Sie hatten ausschließlich ein Ziel: Zeit zu gewinnen. Zeit, die drohende dramatische Situation im Gesundheitswesen nicht eintreten zu lassen. Zeit, die Fehlsteuerungen der Vergangenheit, das Gesundheitswesen nicht als Daseinsvorsorge, sondern betriebswirtschaftlich zu organisieren, korrigieren zu können. Sparmaßnahmen, zurückgefahrene Investitionszuschüsse der Länder, Personaleinsparungen, das Zulassen der Auslagerung der Masken- und Schutzbekleidungsproduktion und vieler Medikamente nach Asien — all das wurde nun sichtbar als politisch-strategischer Fehler eines verantwortungsvollen Staates. So war es ein Verzicht aller zum Wohle aller.
Verheerend wäre es nun, im weiteren Fortgang der Pandemie eine am kalendarischen Alter festzumachende Altersfalle zu konstruieren. Denn das kalendarische Alter sagt nichts über den Zustand und die Schutzbedürftigkeit der Menschen. Das kann nur eine individuelle Betrachtung der Risiken, Vorerkrankungen und Belastbarkeit eines Menschen leisten. Dies gilt für den Mittvierziger mit Diabetes, die Mittsechzigerin mit einer Krebsdiagnose wie für die Hochaltrigen in schwieriger Allgemeinverfassung. Die Aufforderung des Potsdamer Soziologen Hans Bertram, die individuellen Risiken gemeinsam mit dem Arzt zu bewerten und daraus Schlussfolgerungen für die Verhaltensempfehlungen abzuleiten, ist die einzige nicht-diskriminierende Maßnahme nach der Shutdown-Phase.
Damit erübrigen sich auch jedwede “Verzichtserklärungen” von Älteren, zugunsten der Jüngeren länger zuhause zu bleiben. Es gibt keine “Altersfalle” — es sei denn, wir reden sie herbei, wie vor Jahren den Krieg zwischen den Generationen. Wir müssen die beeindruckend positiven Fakten über die Befindlichkeit und die Präsenz älterer Menschen in unserer Gesellschaft zur Kenntnis nehmen. Das heißt, Altersbilder zu hinterfragen und unsere subjektiven Erfahrungen und vielleicht auch Ängste trennen von den wissenschaftlichen und tatsächlichen Gegebenheiten.
Wie bunt und vielfältig das Leben der Älteren ist, lässt sich in jedem der bislang acht Altenberichte der Bundesregierung nachlesen. Zudem hätten gerade Ältere ein “sehr feines Empfinden für ihre Stärken und ihre Schwächen”, sagt der Vorsitzende der Altenberichtskommission, der Heidelberger Gerontologe und Psychologe Andreas Kruse. Wer Ältere also ernst nimmt statt sie aufgrund von Kalenderdaten pauschal mit Stereotypen zu belegen, kann damit rechnen, dass die Betroffenen selbst umsichtig handeln.
Auch die Nationalakademie Leopoldina hat bereits 2009 in einem vielbändigen Bericht “Altern in Deutschland” 15 “Legenden über das Alter” formuliert. Besonders aktuell ist derzeit wieder Legende 2: “Wenn man das kalendarische Alter kennt, weiß man viel über eine Person.” Grundfalsch, sagen die Leopoldina-Forscher: “Je älter wir werden, desto weniger aussagefähig wird das kalendarische Alter.”
Damit sind wir wieder beim Blutspenden. Viele Jahrzehnte waren Ältere hier unerwünscht, weil man offensichtlich dachte, dass ihr Blut nicht “so gut geeignet” sei wie das von Jüngeren. Jedes Land, selbst jedes Bundesland, zog eigene, vollkommen willkürliche kalendarische Altersgrenzen ein. Erst in den 2000er Jahren haben sich Wissenschaftler ernsthaft mit dem Thema auseinander gesetzt — und die These vom “schlechteren älteren Blut” als Hokuspokus entlarvt.
Das Deutsche Rote Kreuz hat daraufhin im Jahr 2009 die bestehende Altersgrenze beim Blutspenden aufgehoben. Inzwischen haben wir 2020, also elf Jahre später. Und doch gibt es diese diskriminierende Regel im täglichen Leben noch immer. Welches Beispiel könnte besser zeigen, wie verheerend unsere Altersstereotypen sind?
In keinem Abschnitt unseres Lebens taugt das kalendarische Alter weniger zur Kategorisierung von Menschen wie in der zweiten Lebenshälfte. Es gar zum Kristallisationspunkt für Verhaltensmaßregeln in Corona-Zeiten zu machen, ist im besten Sinne wissenschaftlich uninformiert und dumm, im schlechtesten Sinne freiheitsberaubend. Ältere gegen Jüngere auszuspielen wird keine einzige Infektion verhindern. Eine derartige Konfrontation ist schlicht und einfach Altersdiskriminierung — und würde den bislang so wunderbaren Zusammenhalt der Gesellschaft irreparabel schädigen.