Rezension: Joachim Detjen: Demokratische Streitkultur in Zeiten politischer Polarisierung

Von Loring Sittler

Mit die­sem Buch legt Joa­chim Det­jen, eine phi­lo­so­phisch fun­dierte, von ihm selbst als „syn­op­tisch“ (S.225) bezeich­nete Betrach­tung, sozu­sa­gen einen Stamm­baum der pola­ri­sie­ren­den poli­ti­schen Argu­men­ta­tio­nen vor. Für die anste­hende „Sisy­phus­ar­beit des Dis­kur­ses“ (Pörk­sen, zitiert auf S.228) lie­fert er eine kon­krete, sehr dif­fe­ren­zierte Argu­mente-Mor­pho­lo­gie, die Dis­ku­tan­ten als Erkennt­nis­hilfe dabei die­nen kann, recht­zei­tig die Ursa­chen und Abwege der Pola­ri­sie­rung als Gefahr für die demo­kra­ti­sche Streit­kul­tur zu erken­nen und ent­spre­chende Kon­se­quen­zen zu zie­hen. Im Kern geht es Det­jen dabei um Argu­men­ta­tio­nen gegen den poli­ti­schen Extre­mis­mus von rechts und links. Als Staats­bür­ger stellt er mehr­fach klar: „Der demo­kra­ti­sche Ver­fas­sungs­staat selbst besteht aus einem kom­ple­xen Gefüge von Werten….Es geht an die Sub­stanz des demo­kra­ti­schen Ver­fas­sungs­staa­tes, wenn in strei­ti­gen Dis­kur­sen diese Werte ange­grif­fen werden…Die ange­strebte demo­kra­ti­sche Streit­kul­tur ist näm­lich genauso wenig neu­tral wie die auf ihre För­de­rung gerich­tete poli­ti­sche Bil­dung.“ (S.223). Beson­ders deut­lich wird das bei dem von ihm beschrie­be­nen „Ver­gif­tungs­grad des Streit­kli­mas“: „Die kul­tu­ra­lis­ti­sche Linke domi­niert die Dis­kurse über Fra­gen des gesell­schaft­li­chen Lebens“ (S. 129, 138 u. ähn­lich 226). Haupt­grund für seine Ein­schät­zung ist die Ten­denz der Lin­ken zu „Arti­ku­la­ti­ons­ver­bo­ten“ und „Aus­schlie­ßun­gen einer bestimm­ten Auf­fas­sung“ (S.148). Er for­dert: „Poli­ti­sche Dis­kurse dür­fen nicht aus‑, son­dern müs­sen ein­schlie­ßen, wenn sie das Güte­sie­gel der Demo­kra­tie für sich in Anspruch neh­men. Tun sie das nicht, sind sie eli­tär, exklu­siv und begrün­den die kul­tu­relle Hege­mo­nie der­je­ni­gen, die als Ideen- und Dis­kurs­wäch­ter für Aus­schlie­ßun­gen gesorgt haben.“ (S.148) Sein Buch rich­tet sich kon­se­quen­ter­weise in ers­ter Linie an die demo­kra­ti­sche Mitte. Im „insti­tu­tio­na­li­sier­ten Streit der Demo­kra­tie“ (S.146) muss sei­nes Erach­tens die Mitte “deut­lich ver­nehm­bar“ (S. 165) wer­den: „Die Demo­kra­tie hat die Bei­träge aus den Rand­zo­nen in der Hoff­nung hin­zu­neh­men, dass sie genü­gend Wider­spruch fin­den – und zwar nicht nur aus der jeweils ent­ge­gen­ge­setz­ten Rand­zone, son­dern vor allem aus der Mitte.“(S. 166).

 

Der Sinn des Strei­tens wird in Anleh­nung an Dah­ren­dorf ver­deut­licht: „Wan­del und Fort­schritt beru­hen letzt­lich auf der kon­sti­tu­tio­nel­len Unge­wiss­heit der mensch­li­chen Exis­tenz. Des­halb bleibt die Gesell­schaft so lange mensch­lich, wie sie das Kon­tro­verse in sich leben­dig erhält. Nicht die uto­pi­sche Har­mo­nie, son­dern die nach Spiel­re­geln zugleich bewäl­tig­ten und erhal­te­nen Span­nun­gen machen den lebens­wer­ten Cha­rak­ter der Gesell­schaft aus.“ (S.21).

Am Ende des Buches fin­det man ein Zitat von Roman Herzog:

„Streit ist ein Lebens­ele­ment der Demo­kra­tie – aller­dings darf sich kein Schaum vor den Mün­dern der Strei­ten­den bil­den.“ (S.229)

In meh­re­ren Kapi­teln wer­den alle Aspekte, grund­le­gende poli­ti­sche, ethi­sche und ideo­lo­gi­sche Vor­aus­set­zun­gen, bewusste Regel­ver­let­zun­gen und alle mög­li­chen Phä­no­mene und Tak­ti­ken der poli­ti­schen Pola­ri­sie­rung ana­ly­tisch detail­liert seziert und bewer­tet. Es han­delt sich eigent­lich um ein sehr lesens­wer­tes Hand­buch zur poli­tisch pola­ri­sie­ren­den Rhe­to­rik, das jedem emp­foh­len wer­den kann, der sich dem poli­ti­schen Streit aus­setzt und/​oder in der poli­ti­schen Bil­dung tätig ist. Auch die gezielte Lek­türe ein­zel­ner Kapi­tel ist empfehlenswert.

Eine umfang­rei­che Quel­len­liste mit mehr als 250 Ein­trä­gen, auf die in den Fuß­no­ten ver­wie­sen wird, schließt das Buch ab.

Demokratische Streitkultur in Zeiten politischer Polarisierung Von Prof. Dr. Joachim Detjen

Nomos,  2023, 248 Sei­ten, E‑Book

ISBN 978–3‑7489–1544‑7

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert